WENN KIESELSTEINE SONNENBADEN

Wenn Kieselsteine sonnenbaden

„Wenn ich’s Dir sowieso nicht rechtmachen kann, kann ich auch gehen!“ nörgelte Lotta beleidigt. Sie zog an der Tür und ließ sie mit einem lauten Krachen zufallen. Der Lärm nahm ein wenig von der Aggression, die Lotta umtrieb und ließ ein wenig Verstand in ihr Denken. Er machte ihr bewusst, dass sie sich kindisch verhielt, aber sie konnte einfach nicht anders. Der Streit mit ihrer Mutter war eskaliert und Lotta konnte nicht einfach zurücknehmen, was sie ihr im Ärger so an den Kopf geworfen hatte.
Dafür war der Vorwurf ihrer Mutter, Lotta würde sich vor allen Arbeiten im Haushalt nur noch drücken, zu unerwartet, zu heftig gewesen. Und nicht zuletzt zu berechtigt. Das war das Schlimmste, sie war ertappt, noch bevor es ihr selbst aufgefallen war. Tatsächlich hatte sich in ihrem alltäglichen Verhalten ein Schlendrian eingeschlichen, den sie wohl unterschätzt hatte. Zu bequem war es, so zu tun, als hätte sie gar nicht bemerkt, dass der Geschirrspüler fertig und das Geschirr bereit zum Aufräumen war. Zu groß die Versuchung, das leere Glas Nutella zurück in den Schrank zu stellen, die benutzte Tasse auf dem Tisch stehen zu lassen oder den Müllsack im Flur beim Rausgehen zu „vergessen“.
Dennoch, legte sich Lotta zurecht, hätte ihre Mutter auch mal gleich in der Situation drauf aufmerksam machen können, als alles hinzunehmen und dann zu einem völlig unerwarteten Zeitpunkt stumpf zu explodieren. Verärgert und beleidigt stieg Lotta auf ihr Fahrrad und fuhr los. Erst mal einfach nur weg. Frust und Ärger ließen sie kräftig in die Pedale treten und schnell fuhr Lotta aus der Stadt hinaus, dann durch Felder und Wiesen. Während Lotta energisch in die Pedale trat, stritt sie sich in Gedanken mit ihrer Mutter und formulierte in ihrem Kopf Vorwürfe, Verteidigungen und Antworten, die ihr vorhin in der Küche nicht eingefallen waren. Sie hatte jede Menge Frust, Aggression und schlechtes Gewissen abzubauen, so dass sie recht schnell etliche Kilometer zurückgelegt hatte, bevor sie das erste Mal so richtig ihre Umgebung wahrnehmen konnte. Sie war in einem Waldstück, in dem sich ein schöner Natursee befand. Das war genau der richtige Ort, um wieder einen freien Kopf zu kriegen, fand Lotta.
Nach einigen weiteren Kurven und Kehren sah sie durch die Bäume das Wasser des Sees glitzern. Sie lehnte ihr Rad gegen einen dicken Baum am Ufer und blickte einen Moment über den See. Sie sammelte ein paar Steinchen, die sie so flach wie möglich über die Wasseroberfläche schmetterte, sie brachte es immerhin auf sechs Sprünge, bevor das Steinchen im Wasser versank. Ausgepowert und müde von den Emotionen machte es sich in einer kleinen Kuhle, die von zwei dicken Baumwurzeln geformt wurde, so bequem wie möglich. Entspannt lehnte sie sich an den breiten Baumstamm und guckte versonnen über das Wasser, das in der Sonne glitzerte. Sie sah den kleinen Wellen zu, die sich in der leichten Brise an der Wasseroberfläche kräuselten und die das Sonnenlicht immer in wechselnden Facetten zurück warfen. Es war fast hypnotisierend, den ständigen Bewegungen des Wassers zuzusehen.
Da ploppte plötzlich der Stein, den Lotta eben noch hatte über’s Wasser hüpfen lassen, wieder an die Oberfläche und hüpfte doch tatsächlich in sechs Hüpfern wieder an Land zurück. Er kam direkt vor Lotta auf und guckte sie vorwurfsvoll an.
Lotta zwinkerte etwas, sie hatte sich sicherlich geirrt, denn ein Stein konnte bekanntlich nicht gucken. Und doch tat er es. Lotta war das gar nicht aufgefallen, doch der Stein hatte zwei dunkle Vertiefungen, die sie unbeirrt anstarrten. Bevor sie sich ganz zu dem Stein vorbeugen konnte, hallte eine quäkende Stimme in ihrem Kopf. „Musste das sein? Musstest Du mich ausgerechnet jetzt ins Wasser schmeißen? Das war nicht nett. Gar nicht, ich war grade so am Dösen und hab‘ die Sonnenstrahlen genossen…seufz“ machte der Stein theatralisch. Lotta starrte den Stein verblüfft an. „Na super, jetzt höre ich schon Steine sprechen…“ murmelte sie und rieb sich die Augen. „Na und? NATÜRLICH können Steine sprechen… wir können aber nix dafür, wenn Ihr uns nicht hört!“ Der Stein wackelte leicht und Lotta hätte schwören können, dass der Stein, hätte er eine Brille auf gehabt, sie dann über den Brillenrand hinweg streng angeguckt hätte.
Das brachte Lotta völlig aus dem Konzept. Sie starrte den Stein an, als ob… nun ja, wie starrt man einen Kieselstein an, der eben gesprochen hat: entgeistert, fassungslos, perplex: Lotta’s Gesichtsausdruck spiegelte das alles wider. Das schien dem Stein zu gefallen, sofern man einem Stein ansehen kann, ob ihm etwas gefällt. Doch, Lotta hatte entschieden den Eindruck, als würde der Stein die Aufmerksamkeit genießen, mit der Lotta ihn eingehend betrachtete. „Wieso sprichst Du ausgerechnet jetzt und mit mir??“ wollte sie wirklich gerne wissen. „Na hör‘ mal, irgendwann muss man sich doch mal äußern dürfen, wenn man immer wieder so schändlich missbraucht wird!“ Nun schien der Stein theatralisch nach oben zu blicken. Hätte er Arme und Hände gehabt, er hätte sich bestimmt eine Hand mit grooßer Geste an die Stirn gehalten. Lotta musste plötzlich lachen… die Situation war so absurd, dass sie einfach nur noch lachen konnte.
„Das ist kein Grund, sich jetzt auch noch über mich lustig zu machen!“ echauffierte sich der Kieselstein. Ein Kieselstein, der sich echauffiert… damit war’s um Lotta’s Fassung geschehen. Sie schüttete sich aus vor Lachen und konnte gar nicht mehr aufhören. Während dessen schimpfte der Kieselstein weiter vor sich hin, was Lotta aber immer wieder dazu brachte, von neuem los zu prusten, sobald sie sich einigermaßen beruhigt hatte.
Die blanke Neugier brachte Lotta am Ende dazu, wieder ernst zu werden. So eine einmalige Gelegenheit durfte man nicht ungenutzt verstreichen lassen. Wer weiß schon, wann wieder einmal ein Stein mit ihr sprechen würde. Also wischte Lotta sich die restlichen Tränen aus den Augen und räusperte sich. Sie versuchte, ein ernsthaftes Gesicht aufzusetzen, das ihr aber immer wieder zu entgleisen drohte, sobald sie den Kieselstein ansah, der höchst beleidigt zurück starrte.
„Entschuldige bitte, ich hatte noch nie Gelegenheit, mit einem Stein zu sprechen, das ist eine besonders verwirrende Situation für mich“ erklärte Lotta. Das schien den Stein etwas zu besänftigen. „Nun ja, ich kann nicht bestreiten, dass meine Art sich im allgemeinen eher wortkarg gibt“… lenkte der Stein ein. „Wortkarg“… ja, so kann man das sagen… stimmte Lotta zu und musste sich einen erneuten Lachanfall verkneifen. Der Stein tat so, als hätte er das nicht bemerkt und erklärte stattdessen: „Sie müssen wissen, dass wir eher von gemächlichem Temperament sind…
„Pffff….. „ Lotta prustete von neuem los… von gemächlichem Temperament… Steine! Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Wieder guckte der Kieselstein Lotta gleichermaßen empört und genervt an. „Ich weiß überhaupt nicht, was daran so lustig sein soll“ legte er los. „Wir sind seit Anbeginn der Welt hier und haben die Entwicklung dieses Planeten quasi von Anfang an begleitet, durch Hitzeperioden und Eiszeiten, durch Naturkatastrophen und Zeiten des Überflusses. Wir kennen alles und haben alles selbst mitgemacht.“ Mit dieser ernsthaften Ansage brachte er Lotta schließlich dazu, sich wieder zusammen zu reißen. Mit einiger Genugtuung beobachtete er, wie Lotta‘s Lachen langsam erstarb und fuhr mit seinen Ausführungen fort. „Ja, es ist bestimmt nichts Lächerliches dabei, die Geschichte des Planeten Erde persönlich mit zu erleben und mit zu gestalten.“ Der kleine Kieselstein sah tatsächlich so aus, als würde er sich in Positur stellen, als er fortfuhr. „Wir sind Zeitzeugen längst vergangener Epochen. Für uns ist Zeit ein relativer Begriff und ein einzelnes Menschenleben bedeutet uns im Grunde nichts. Wir sind auf die Ewigkeit ausgerichtet…“ Der letzte Satz saß. Lotta war nun wirklich beeindruckt.
„Das, was Sie aktuell vor sich sehen, mag nur wie ein lächerlicher, kleiner Kieselstein aussehen, doch in den Anfängen der Erde war ich Teil eines riesigen Urgesteins.“ Stolz wiegte der Stein langsam hin und her. „Für mich scheint es erst gestern gewesen zu sein, da lag ich als großer Felsen am Grunde eines die halbe Weltkugel bedeckenden Gletschers, etwas später wurde ich von einem reißenden Strom viele Kilometer weit getragen, geschliffen, poliert und verkleinert. Ich habe wahrlich eine weiter Reise hinter mir.“ Lotta nickte nun ernst.
„Und dann darf ich mich doch wohl aufregen, wenn mich ein freches, junges Gör einfach so aus meinem Sonnenbad reißt um mich quer über den Teich zu schleudern…!“ Der Gesichtsausdruck des Steines wurde wieder etwas verdrossen. Lotta war jedoch bei weitem nicht beeindruckt genug, um das ohne Widerspruch hinzunehmen. „Also hören Sie mal! Ich bin grade mal 19 Jahre auf dieser Erde und hab‘ keine Ahnung, was Sie schon alles durchgemacht haben, bzw. wer oder was Sie früher einmal waren. Und schon gar nicht wissen kann ich, ob es Ihnen nun grade angenehm ist, ins Wasser geworfen zu werden. Schließlich sprechen Sie und Ihresgleichen normalerweise nicht mit unsereinem. Wie sollten wir dann eine Ahnung von Ihren Befindlichkeiten haben?!“
Der Stein guckte böse und setzte zu einer Antwort an, … um plötzlich nichts mehr zu sagen. Er stutzte und schien tatsächlich etwas ratlos zu sein. „Nun ja… ganz offensichtlich entbehrt Ihre Argumentation nicht einer gewissen Logik“ musste er zugeben. Das wiederum stimmte Lotta versöhnlich. „Wissen Sie, wenn ich nur geahnt hätte, dass es Sie stört, ins Wasser geworfen zu werden, hätte ich mir bestimmt einen anderen Stein ausgesucht“ räumte sie ein. Der Stein nahm das mit einem kurzen Wackler, der wie ein Nicken wirkte zur Kenntnis. „Außer Ihnen hätte ich allerdings niemandem geglaubt, der mir erzählt hätte, dass Steine gerne Sonnenbäder nehmen.“ Lotta lächelte. Auch der Stein lächelte… obwohl man das nicht mit Sicherheit hätte sagen können… bei einem Stein. „Oh ja, wir Steine lieben die Sonne und die Hitze. Wir tanken die Sonnenenergie in unserem Inneren, können sie allerdings nicht allzu lange halten.“
Eine kleine Pause entstand. Da fiel dem Stein offensichtlich etwas ein: „Aber sagen Sie mir: was bringt Sie dazu, Steine einfach so ins Wasser zu werfen?“ In der Frage lag kein Vorwurf, deshalb ging Lotta sofort darauf ein. Nun ja: dabei geht es darum, den Stein möglichst so flach zu werfen, dass er so oft wie möglich auf der Wasseroberfläche aufkommt. Dafür muss man etwas geschickt sein“ versuchte Lotta zu erklären.
„Wissen Sie denn nichts Besseres mit Ihrer Zeit anzufangen?“ Jetzt war der Vorwurf nicht mehr zu überhören. „Wenn man nicht davon ausgeht, dass man sich mit Steinen unterhalten kann, dann macht das Spaß“ entgegnete Lotta mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. „Und abgesehen davon kann man sich damit gut abreagieren. Ich war sauer und wollte mich ablenken“ Lotta zuckte mit ihren Schultern. „Aha, daraus entnehme ich, dass etwas oder jemand Sie verärgert hat“ schloss der Stein. „Das kann man tatsächlich so sagen…“ entgegnete Lotta und war immer noch leicht gereizt.
„Wieso?“ fragte der Stein kurz. Lotta holte Luft. „Ich hatte einen Streit mit meiner Mutter, wir waren beide genervt und manchmal streiten wir dann…“ Mehr wollte Lotta nicht preisgeben. Es wäre, bei näherer Betrachtung, auch nicht der Mühe wert gewesen. „Wieso?“ Diese wiederholte Frage ließ Lotta stutzen. „Wieso was??“ fragte sie zurück. „Ich frage mich einfach nur, ob ihr nichts Besseres zu tun habt“ nörgelte er vor sich hin. „Ihr habt nur eine begrenzte Zeit auf Erden und dann vergeudet Ihr sie mit Streiten.“ Darauf hatte Lotta keine Antwort. Sie seufzte. „Ja, vielleicht haben Sie Recht. Wahrscheinlich sogar. Aber im Alltag ist das gar nicht so einfach. Worte sind schnell gesagt, manchmal bereut man sie, sobald sie ausgesprochen sind.“
„Ihr Menschen scheint dann zu schnell mit den Worten zu sein“ folgerte der Stein ganz logisch. Lotta lachte etwas betreten. „Ja, das mag wohl sein. Aber wir sind generell viel schneller als Ihr Steine, sonst würden wir in unserem kurzen Leben ja nichts bewegen können.“ Der Stein schien zu überlegen. „Was wollt Ihr denn bewegen? Und wozu?“ Zwei einfache Fragen, die für Lotta schwer zu beantworten waren. „Nun ja, ich schätze mal, wir Menschen haben alle unsere Träume und Ziele. Jeden treibt etwas anderes an. Und dann ist da noch der Alltag. Es gibt schöne Momente, aber eben auch Streit. Wir lieben und hassen uns und selbst wenn wir uns lieben, streiten wir uns manchmal. Wir Menschen sind so.“ Wieder ein eher hilfloses Schulterzucken.
„Das erscheint mir überaus anstrengend. Kein Wunder, dass Ihr nur eine kurze Zeit zur Verfügung habt.“ Der Stein klang fast mitleidig. Lotta konnte das so nicht stehen lassen. „Streitet Ihr den nie? Ist bei Euch Gesteinen immer alles in Harmonie?“ wollte sie wissen. „Worüber sollten wir streiten? Ob einer größer ist als der andere? Ob ein Stein wertvoller ist als der andere? Das würde doch keinen Sinn machen, denn wir verändern uns ständig. Ein Felsen von heute ist morgen ein Kieselstein wie ich, oder noch kleiner. Dann sind wir irgendwann alle Sand und der Kreislauf geht von vorne los.“ Der Stein rührte sich nicht, doch Lotta hatte den Eindruck, als würde er den Kopf schütteln… wenn er denn einen hätte. So als … Stein.
Lotta seufzte. „Im Grunde macht es bei uns auch meist keinen Sinn. Aber unsere Emotionen sagen uns immer wieder etwas anderes.“ Sie dachte an ihren Streit mit Mama. Was für ein Unsinn, sich über so banale Dinge wie Haushalt zu streiten. Man sollte meinen, ein Müllsack und ein voller Geschirrspüler wären viel zu unwichtig um sich zu streiten und möglicherweise tagelang nicht miteinander zu reden; so, wie es eben immer wieder bei Lotta und ihrer Mutter der Fall war. Im Grunde hatte Lotta gar nichts gegen ihre kleinen Pflichten im Haushalt, nur kollidierten ihre Prioritäten und ihr Tagesrhythmus leider häufig mit den Ansichten und Gewohnheiten ihrer Mutter.
„Ich liebe meine Mama“ überlegte Lotta laut, „aber ihre beleidigte Art, wenn ich mal wieder den Müll nicht rechtzeitig rausgebracht habe, regt mich einfach auf. Und auch ihre Leidensmiene, wenn sie den Geschirrspüler ausräumt, weil ich es nicht getan habe. Man kann doch nicht immer Lust auf solche Pflichten haben…“
Der Kieselstein wiederum wackelte… „vergeudete Zeit… so viel vergeudete Zeit…“ schimpfte er. „Es liegt aber nicht nur an mir“ verteidigte sich Lotta. „Meine Mutter denkt immer, ich wäre nicht bereit, selbst Verantwortung zu übernehmen. Dabei krätscht sie mir immer in meine Angelegenheiten. Wenn ich erst einmal ausgezogen bin, werde ich ihr beweisen, dass ich das kann. Ich bin doch kein Versager, ich will nur endlich unabhängig sein!“ Als sie sich so reden hörte, wurde ihr klar, dass sie sich wie ein typischer Teenie anhörte. Das war sie wohl noch immer: ein Teenie, obwohl sie sich meist so erwachsen fühlte und von ihr erwartete, auch so behandelt zu werden. Wäre sie an der Stelle ihrer Mutter, wäre sie sicherlich auch sauer.
Der Kieselstein sah sie an. „Freiheit und Unabhängigkeit sind Illusion. Wir sind alle miteinander verlinkt, Du mit allen anderen Menschen dieser Welt und Ihr Menschen mit der Natur, mit den Elementen dieser Erde. Wir sind alle Teile eines großen Ganzen. Du willst anders sein als Deine Mutter, doch Du bist ihre Tochter und ihr damit ähnlicher, als Du es vermutlich wahr haben willst. Aber das spielt überhaupt keine Rolle, weil jeder so ist wie er ist und genauso sein soll. Jedes Wesen dieser wunderbaren Welt ist genauso, wie es gedacht ist, weil alles in den großen Kontext passt, egal wie groß oder klein. Wir Steine haben das schon lange begriffen, deshalb verschwenden wir keine Zeit damit, anders sein zu wollen, als wir sind. Damit wird das Dasein erheblich leichter, das können Sie mir glauben.“
Lotta sah den Stein an, als hätte sie noch nie einen Kieselstein gesehen. „Das ist doch mal cool!“ entfuhr es ihr. „Aber wenn Ihr Steine Euch nicht mehr mit Identitätskrisen herumschlagt, was macht Ihr dann den ganzen Tag, außer … äh …herumliegen?“
Die Antwort war ebenso einfach wie überraschend: „Wir sind damit beschäftigt zu sein“ erklärte der Stein. Lotta wartete etwas, denn sie hatte etwas besonders weises und intelligentes erwartet. Doch das war’s, der Stein schwieg.
„Aha. Mit sein. Das ist natürlich… äh… interessant.“ Lotta war ratlos. Der Kiesel starrte Lotta irritiert an, offensichtlich hatte er eine andere Reaktion erwartet. Schließlich seufzte er etwas genervt und erklärte: „Sich auf das eigene Da-sein zu konzentrieren ist die höchste Form des Bewusst-seins. Es bedeutet, sich dessen bewusst zu sein, ein Teil des großen Universums zu sein, in perfekter Ko-Existenz mit allem, was es sonst noch gibt. Es bedeutet, die eigene Existenz zu feiern, denn dann gibt es keine Wünsche mehr, kein Bedauern und kein Leid. Alles ist so, wie es sein soll und so, wie es erdacht ist. Es bedeutet in Frieden zu sein mit sich und der Welt.“
Lotta wiederholte versonnen „in Frieden sein mit sich und der Welt“… das klingt schön…“ Der Stein erwiderte sanft: „Ja, das ist es. Freilich seid Ihr Menschen noch weit davon entfernt. Nur ab und zu erleben wir jemanden, der dieses Glück für eine sehr begrenzte Zeit erahnen kann. Doch die meisten von Euch sind viel zu beschäftigt mit ihren kleinen und großen Beschäftigungen, die ihnen soooo wichtig erscheinen. Ich denke, das erfordert noch einige Leben, bis Ihr eine Vorstellung davon bekommt, wie sich das vollkommene Glück anfühlen kann.“ In der Stimme des Kieselsteines schwang fast so etwas wie Mitleid, als er die letzten Worte sagte.
Lotta sann noch einige Augenblicke dem nach, was der Stein ihr erklärt hatte. Irgendwann schien sie zum letzten Satz gekommen zu sein, denn es ging auf einmal ein Ruck durch ihren Körper und sie stand auf. „Nun ja, bis dahin haben wir noch ein bisschen Zeit um viele Dinge besser zu machen und uns an der Bewegung und am Tempo zu erfreuen.“ Sie hätte nicht sagen können, weshalb, aber die verklärte Schilderung des Glücks der stillen Zufriedenheit weckte in ihr alle Lebensgeister. Sie hatte Lust, sich ausgiebig zu bewegen. Am besten so schnell wie möglich – auf ihrem Fahrrad.
„Herr Kieselstein, vielen Dank für dafür, dass Sie mit mir gesprochen haben und besonderen Dank für Ihre Erklärungen. Ich werde das nicht vergessen und vor allem werde ich künftig keinen Stein mehr in seinem Sonnenbad stören.“ Lotta lächelte den Stein freundlich an und stellte sich vor, was wohl ein Spaziergänger denken würde, wenn er sie so sah, wie sie auf einen kleinen Kieselstein einredete. Ihr Lächeln wurde noch eine Spur breiter und sie fragte den Stein zum Schluss: „möchten Sie hier liegen bleiben, oder darf ich Sie zurück an Ihren Platz in der Sonne legen?“
Der Stein lächelte fast zurück… sofern Steine eben lächeln können und meinte erfreut: „Oh, ich dachte schon, Sie fragen nie und lassen mich hier einfach liegen. Ja, ich würde sehr gern mein Sonnenbad fortsetzen, wenn Sie so freundlich wären…“ Er schien sogar Lotta’s Hand etwas entgegen zu kommen, als sie ihn aufhob und an seinen Platz in der Sonne zurücklegte. „Dankeschön. Das viele Sprechen hat mich nun doch sehr angestrengt. Nun freue ich mich darauf, mich wieder mit meinem Da-sein zu beschäftigen. Das habe ich ja nun lange genug vernachlässigt.“ Es war nur noch ein eher kümmerlicher Versuch, nörgelig zu sein. „Leben Sie wohl und alles Gute!“ sagte Lotta, bevor sie sich zu ihrem Fahrrad wandte. Doch der Stein schwieg, er war schon wieder zu sehr damit beschäftigt, zu sein.
Lotta schwang sich behände auf ihr Rad und trat kräftig in die Pedale. Sie genoss die Bewegung, den Fahrtwind und die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Die Worte des Steines würde sie nicht vergessen, doch sie war, wie er so treffend bemerkt hatte, noch weit davon entfernt, in der schlichten Form des Daseins ihr Glück zu finden. Bis es soweit war, war sie jedoch wild entschlossen, ihrem bewegten Leben so viel Spaß wie irgend möglich abzuringen.