HOCH HINAUS

„Du traust Dich nicht! Ich hab’s doch gesagt!“ tönte Lukas gehässig und schaute Lotta herausfordernd an. Er trat einen Schritt dichter an sie heran: „Wird das heute noch was? Ich hab‘ nämlich noch was vor.“ So eine Frechheit konnte Lotta beim besten Willen nicht auf sich sitzen lassen. Natürlich war Lukas nur ein kleiner Junge im Vergleich zu ihr, immerhin war sie vier Jahre älter als der Angeber, der vor ihr stand und große Töne spuckte, obwohl er einen guten Kopf kleiner war als sie. Eigentlich sollte sie sich auf solche Kindereien nicht mehr einlassen. Aber Lukas war einfach soooo ein Blödmann und es wurde wirklich Zeit, dass ihm mal jemand zeigte, wo’s lang ging. Also holte Lotta wider besseres Wissen tief Luft und setzte ein Bein auf den Stumpf eines abgeschnittenen Astes am größten Baum im Stadtpark.
Lotta zog sich hoch und musste sich bis an ihre Grenzen strecken um das andere Bein auf die nächste höhere Astgabelung zu setzen. Sie griff nach einem Ast und zog sich mit einem Ächzen hoch. Weiter ging’s zum nächsten Ast, der war nicht weit, aber auch nicht besonders stabil. Es reichte aber, um sich noch höher zu hangeln. Lotta schaute triumphierend auf den Dreikäsehoch hinunter. „Wenn Du größer bist und Dich traust, kannst Du’s mir ja irgendwann mal nachmachen“ lächelte sie und griff nach dem nächsten Ast.
„Ach, das ist ja noch nicht RICHTIG hoch. Viel höher traust Du Dich ja doch nicht“ schallte es ihr von unten entgegen. Lotta ärgerte sich. Am meisten ärgerte sie sich aber darüber, dass sie bei solchen Sticheleien einfach nicht cool bleiben konnte. Sie konnte nur so tun, als wäre sie unbeeindruckt und kletterte vorsichtig höher. „Nur nicht runter gucken“ mahnte sie sich selbst in Gedanken, sie hätte sich eher auf die Zunge gebissen, als diesen Satz auch nur zu flüstern. Also schaute sie stur immer nur auf den nächsten Ast über ihr und zog sich weiter hoch.
Lotta war schon richtig weit geklettert und konnte locker in der Ferne den Kirchturm der 10km entfernten Kleinstadt sehen. Die Baumkrone war hier so komfortabel, dass sie ohne Mühe von einem Ast zum nächsten klettern konnte, ohne ein großes Risiko einzugehen. „Jetzt will ich’s aber wirklich wissen“ sagte sich Lotta und wurde richtig abenteuerlustig. Sie beschloss, noch weiter hoch zu klettern um herauszufinden, wie weit man von ganz oben, wo die Äste langsam dünner werden, ins Land schauen konnte. Ihre Konzentration war ganz auf den Baum und nach oben gerichtet und so kletterte sie einfach weiter, solange die Baumkrone noch so dicht und das Klettern noch so bequem einfach ging. Sie war ganz in ihrer Bewegung und kletterte immer weiter, ohne Gefühl für die Zeit und schon gar nicht mehr für die Höhe, die sie mittlerweile erklommen hatte. Das Blätterdach war dicht und erweckte den Eindruck eines festen Kokons um sie herum.
Auf einmal aber lichtete sich das Blattwerk um Lotta und sie erschrak heftig, als sie auf einmal nur noch Himmel sah. Strahlend sonnigen Himmel über einer weißen Wolkendecke, die sich beunruhigend nah unter ihr ausbreitete. Bei ihrem Flug nach Teneriffa vor zwei Jahren, hatte sie aus dem Flugzeug heraus die herrlich leuchtende, weiße Wolkendecke bestaunt, die von der Sonne angestrahlt wurde und aussah wie ein weiches, strahlendes, riesiges Wattebett.
Nun zuckte Lotta allerdings schockiert zusammen und hielt sich krampfhaft am Baumstamm fest. „Das gibt’s doch nicht“ überlegte sie hektisch. „So weit oben kann ich doch noch gar nicht sein! Obwohl…“ sie dachte daran, wie lange sie schon immer weiter und immer höher geklettert war. Sie hatte die Zeit ganz vergessen und musste mittlerweile wirklich ziemlich hoch sein. „Aber so hoch ist doch kein Baum der Welt!“ meldete sich Lotta’s Stimme der Vernunft. Doch das, was sie sah, widersprach dem nur allzu deutlich. Trotz all dem Schrecken war es an diesem Ort irgendwie recht schwierig, sich lange zu fürchten. Dafür war der Sonnenschein viel zu strahlend, der Baumstamm viel zu fest und Vertrauen erweckend. Das sie umgebende Blätterdach war beruhigend dicht und strahlte in allen möglichen Grüntönen. Lotta lehnte sich gegen den Baumstamm, halb auf einem dicken Ast sitzend. In schwindelnder Höhe hatte Lotta einen sicheren Sitz und eine fantastische Aussicht. Das musste man doch nutzen, schauen und so gut es ging genießen, fand sie schließlich.
Ein kühler Wind kam auf und strich ihr über’s Gesicht. Es fühlte sich fast so an, als ob ihr jemand ins Gesicht pusten würde. Lotta drehte suchend den Kopf und schaute sich um. Niemand da. Da spürte sie erneut die kühle Brise und schaute angestrengt nach links. Da war aber … nichts?… Lotta nahm eine Bewegung in der Luft wahr und versuchte, genauer hinzusehen. Nichts. Aber… da war doch was… erst als sie ihren Blick etwas unscharf werden ließ, nahm sie einen undeutlichen Umriss wahr, der sich ständig aufzulösen und neu zu bilden schien. Als ob die Luft an einer Stelle mehr in Bewegung war als drum herum. Sie konnte sogar eine Gestalt wahrnehmen und staunte. Da war… jemand. Und kicherte.
Lotta dachte erst, sie hätte sich verhört, so fein und leise drang das Geräusch an ihr Ohr, eigentlich nicht viel mehr als das Geräusch des Windes. Aber sie war sich sicher: das war ein Lachen. Alles klar. Jetzt war’s soweit. Lotta war wohl verrückt geworden. „Halloooo“… raunte es ihr ganz sacht in die Ohren. „Äh… hallo?“… mehr fiel Lotta nicht ein. Ihr Verstand war ein leerer Raum. „Willkommen in der Welt der Lüfte!…“ raunte es und wehte Lotta ins Gesicht und kicherte erneut. Lotta fand, dass nun doch etwas zu klären war. „Sag mal… wer immer Du bist: lachst Du mich an oder lachst Du mich aus?“ Wenn Lotta eines nicht ausstehen konnte, dann Leute, die sich auf ihre Kosten amüsierten. Die Antwort war wieder ein leises Kichern… „an an an… aus aus aus… spielt keine Rolle… an an an….“ Lotta war so schlau wie vorher und ließ es erst einmal dabei bewenden, denn eine ganz andere Frage drängte sich in den Vordergrund. „Wer bist Du?“
„Ich bin der Ostwind…“ kicherte es und wehte Lotta sanft die Haare aus dem Gesicht. „Aha“ machte Lotta, die mit der Antwort nicht wirklich viel anfangen konnte. „Was macht man denn so als Ostwind?“ wollte sie wissen. Etwas Intelligenteres fiel ihr einfach nicht ein. Wieder war ein fröhliches, gehauchtes Gekicher die Antwort, gefolgt von kleinen Windböen, die spielerisch in Lotta’s Haar pustete, so dass es ihr bald von allen Seiten ins Gesicht fiel. „Du lachst mich also doch aus…“ schimpfte Lotta und wischte sich mit der freien Hand die Haarsträhnen aus dem Gesicht, was ziemlich erfolglos war, weil es ihr immer wieder ins Gesicht gepustet wurde. Die verschwommene Gestalt bog sich vor Lachen und hüpfte dann auf und ab. Lotta gab auf und ließ die Hand wieder sinken. Das Spiel war ihr zu doof.
Sofort ließ der Wind nach. „An an an…!“ wehte es ihr entgegen. Ich spiele gern, ich necke gern, ich liebe die Bewegung!…“ Irgendwie konnte Lotta dem Ostwind nicht lange böse sein. „Mit wem spielst Du denn gern, wenn ich grade nicht anwesend bin?“ wollte sie wissen. „Mit den Vögeln z.B., wir haben immer viel Spaß…“ säuselte es ihr ins Ohr. „Auch mit den Bäumen und ihren Blättern. Wir machen Musik und im Herbst puste ich die Blätter, so dass sie tanzen…“ Die Gestalt tanzte nun auch und Lotta musste schmunzeln, denn die Lebensfreude war regelrecht ansteckend.
„Wo sind denn die anderen Winde?“ fragte sie stattdessen. „Woanderssss….“ hauchte der Ostwind. „Tolle Antwort…“ Lotta rollte mit den Augen. Die Gestalt des Ostwindes schien mit den Schultern zu zucken. „Irgendwo auf der Welt, der Nordwind ist um diese Zeit meist auf der Südseite der Erde, keine Ahnung. Woanders eben. Wir treffen uns selten. Und wenn, dann mögen es die Menschen nicht. Wir bringen vieles durcheinander…“ gluckste der Ostwind am Ende und hüpfte fröhlich auf und ab. Lotta versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn alle Winde gleichzeitig wehten und glaubte sofort, dass die Menschen das nicht gut fanden. Das musste ein schreckliches Unwetter geben.
Der Ostwind zerrte schon wieder an Lotta’s Jacke und brachte ihre Haare durcheinander. Langsam wurde es ihr zu bunt. „Hör‘ endlich auf, das nervt totaaaaal!“ maulte sie den Ostwind an. Die Gestalt stutzte. „Das kann ich nicht. Ich bin der Ostwind…“ Als wäre das Erklärung genug, hob die Windgestalt beide Hände und guckte fragend, sofern eine Gestalt, die im Grunde gar keine war, fragend gucken konnte. „Hey, Du kannst doch mal aufhören zu wehen… menno…“ Lotta war immer noch genervt. „Nein, ich bin doch der Ostwind. Ich wehe…“ war die Antwort, jetzt irgendwie ratlos. „Du wehst also immer? Wirklich immer??“ fragte Lotta. „Natürlich. Ich bin der Ostwind.“ Diese Feststellung war jetzt nicht mehr neu, fand Lotta, doch der Ostwind war noch nicht fertig: „Das ist, was ich bin und das ist meine Aufgabe. Wir Winde umwehen die Erde. Wir streicheln sie, wir reinigen sie, wir transportieren und wir sorgen für Bewegung, damit Leben existieren kann. Wir sorgen für Strömungen und dafür, dass die Sonne die Atmosphäre nicht zu sehr aufheizt. Wenn wir aufhören würden zu wehen, würdet Ihr aufhören zu existieren.“ Die Gestalt des Ostwindes neigte den Kopf zur Seite und schaute Lotta an. Die war ratlos. „Wieso sorgt Ihr für Leben??“ hakte sie nach. Nun wollte sie es wirklich genauer wissen.
„Wir transportieren die Samen vieler Pflanzen und sorgen dafür, dass neue entstehen, dass Blüten bestäubt werden. Wir sorgen dafür, dass die Temperaturen auf der Erde nicht zu extrem werden, denn wir verwehen die eisigen Winde genauso wie die heißen. Wir sorgen für genügend Sauerstoff im Wasser, wir wehen giftige Gase und Energien weg, so dass sie sich verteilen und nicht mehr so viel Schaden anrichten können. In letzter Zeit fällt uns aber genau das immer schwerer, weil so viel Gift in die Luft steigt. Es fällt uns immer schwerer, es von Euch weg zu transportieren und zu verteilen. Genauso machen wir es mit negativer Energie. Wir verwehen sie, wenn sie zu stark wird, doch auch das fällt uns immer schwerer. Manchmal setzt uns das sehr zu und dann müssen wir zusammenkommen um gemeinsam zu wirken. Geht manchmal nicht anders.
Das war sehr viel Information, vieles, was Lotta noch nie bedacht hatte. Sie sah den Ostwind mit anderen Augen. „Oh, das tut mir leid. Ich hab‘ darüber noch nie nachgedacht, wenn ich ehrlich bin.“ Nun war es an Lotta, ratlos mit den Schultern zu zucken. Die Gestalt lächelte. „Noch geht’s. Aber immer öfter müssen wir mit Gewittern arbeiten, weil wir die Negativität und Aggressionen nicht mehr nur wegwehen können, obwohl wir feste pusten. Wir müssen sie jetzt öfter als früher verbrennen, das erledigen die Blitze. Es geht nur manchmal ins Auge, wenn mehr getroffen wird als die mit Negativität aufgeladene Atmosphäre.“ Wieder ein Schulterzucken.
„Willst Du damit sagen, dass wir Menschen auch dann Negativität produzieren, wenn wir z.B. streiten?“ Mit dem „Ja“ des Ostwindes blies Lotta eine Windböe ins Gesicht. „Ihr streitet so viel, Ihr kämpft so viel, Ihr gebt so viele negative Äußerungen an die Atmosphäre ab, dass es schwierig wird, sie zu reinigen.“
„Aber wir wissen das nicht! Ich wusste nicht, dass wir mit negativen Worten oder mit Aggression so viel Schaden anrichten.“ Lotta versuchte sich zu rechtfertigen, doch der Ostwind schüttelte den Kopf. „Die meisten von Euch haben es vergessen. Leider. Aber das Wissen ist da, Ihr habt es in Eure Sprache integriert. Ihr sprecht doch immer von dicker Luft, wenn jemand sauer ist, oder vom Gegenwind und Donnerwetter, wenn es zu Streitigkeiten kommt. Es gibt ganz viele Hinweise in Eurer Sprache, Ihr habt nur das Bewusstsein dafür verloren“…seufzte der Ostwind.
„Das tut mir leid. Echt jetzt.“ Lotta war tatsächlich betroffen über das, was sie hörte. Sie war immer davon ausgegangen, dass die Erdatmosphäre ausschließlich mit Abgasen vergiftet wurde. Dass auch Energien in Form von Streit, von Schimpfereien, Flüchen und sonstigen üblen Äußerungen nichts anderes als Umweltverschmutzungen sind, war ihr nie in den Sinn gekommen.
Wieder wehte ihr eine laue Windböe ins Gesicht: „Du kannst uns helfen!“ wehte es ihr entgegen. Interessiert sah Lotta auf. „Wie?“ „Ganz einfach!“ wehte es ihr sanft ins Gesicht. „Versuch‘ doch mal, künftig einem Streit aus dem Weg zu gehen, oder wenn das nicht geht, sachlicher dabei zu bleiben. Am besten wär’s, wenn Du darüber lachen könntest. Kaum etwas neutralisiert negative Energie besser, als Euer Lachen. Lachen ist eine wunderbare Waffe gegen Negativität“ gluckste der Ostwind. Er selbst hatte ganz offensichtlich reichlich Humor.
„Oh, das ist ja wirklich einfach“ staunte Lotta. „Einfach ja, aber schwierig“ raunte es zurück und noch bevor Lotta ihre Stirn in Falten schmeißen konnte, setzte der Ostwind nach: „Gewohnheiten sind sehr schwer zu ändern. Es dauert und bringt viele Rückschläge mit sich. Doch es lohnt sich, wenn man sich nicht entmutigen lässt. Mit der Zeit werden die Rückschläge seltener und daran kann man erkennen, wie sehr man sich verändert hat. Denn das passiert. Du wirst Dich verändern und mit Dir Deine Welt.“
„Klingt nach einem großen Plan“ meinte Lotta beeindruckt. „Aber das ist wahrscheinlich etwas zu groß für mich.“ Wieder wehte ihr ein glucksendes, leises Lachen entgegen. „Du kannst die Welt verändern, wenn Du es wirklich willst…“ wehte es ihr wieder ins Gesicht, dann kicherte der Ostwind wieder. Lotta zweifelte jedoch. „Wie sollte ich sowas alleine schaffen?“ Wieder bliess ihr der Ostwind ins Gesicht: „Du bist nicht allein…“ hörte Lotta. „Du bist eine von Vielen. Muut! Es kann gelingen! Sing, wenn Du Zweifel hast. Singen hebt den Geist und neutralisiert Negativität. Sing, wenn Du Dich ärgerst, das wird Dir helfen.“ Lotta kratzte sich am Kopf und hätte beinahe vergessen, sich fest zu halten. Sie saß ja noch immer auf diesem Baum. Also nahm sie wieder eine vorsichtigere Haltung ein: „Na gut, dann will ich das mal versuchen. Was tut man nicht alles für den Wind…“ murmelte sie schmunzelnd. Sie hatte das halb zu sich selbst gesagt, doch die Antwort bliess ihr postwendend die Haare aus dem Gesicht. „Nicht für uns… für Euch!! Tu’s für Dich und Deine Mitmenschen. Wirst sehen, es lohnt sich…es wird mehr Auswirkungen haben, als Du Dir ausmalen kannst. Wenn Du die Welt verändern willst, musst Du zuerst Dich verändern. Dann wird sich die Welt mit Dir verändern.“
Die letzten Worte konnte Lotta kaum mehr verstehen, weil der Wind immer stärker wurde. „Ich muss los… ich muss wehen… auf Wiedersehen!!!!… Danke!…“ raunte der Ostwind und blies Lotta immer stärker ins Gesicht. Dann schien er sich in höhere Regionen zu begeben und über ihren Kopf hinweg zu sausen, bis es wieder still wurde. Lotta sah sich um und stellte fest, dass die Sonne schon weit im Westen stand und bald untergehen würde. Das brachte sie zurück zu ihrer eigenen Situation. Sie saß ja noch immer, wenn auch überraschend bequem, auf einem mega-hohen Baum. „Na super. Ich hätte den Ostwind fragen sollen, ob er mich nicht ein Stück mitnehmen kann. Irgendwie muss ich auch mal wieder nach Hause kommen.“
Lotta besah sich ihre Position im Astwerk und begann mit dem Abstieg, in dem sie ihren Fuß auf den nächsten tieferen Ast legte. „Alles ganz easy, geht einfach nur rückwärts“ versicherte sie sich selbst dabei. Doch es ging wirklich überraschend einfach, wenn auch langsam. Mitunter kam es ihr vor, als würden sich speziell für sie immer die komfortabelsten Äste aus dem Baumstamm bilden um ihr das Runterklettern so einfach wie möglich zu machen. So seltsam praktisch gewachsen war noch nie ein Baum gewesen, auf den sie geklettert war. Aber umso besser, Lotta kletterte behände immer weiter nach unten, aber es dauerte dennoch eine ganze Weile, bis sie durch die Blätter den Boden wieder erkennen konnte. Lotta staunte. Sie war wirklich unglaublich hoch geklettert. Irgendwann erreichte Lotta den untersten Ast und sprang mit einem Satz ins Gras.
Lukas stand zu ihrer Überraschung immer noch an der Stelle, wo sie ihn zurück gelassen hatte. Doch nun war er kalkweiß und machte große, erschrockene Augen. „Mann… ich hab‘ Dich überhaupt nicht mehr gesehen, so hoch bist Du geklettert. Wie weit warst Du denn oben? Und warum hat das so lang gedauert? Ich dachte schon, Dir sei was passiert!“ Lotta sah, dass Lukas ehrlich erschrocken war. Ihr Ärger auf den Jungen war verraucht, sie konnte ihn jetzt so sehen, wie er war: ein kleiner Junge, der die Aufmerksamkeit eines älteren Mädchens genießt.
„Mach Dir keine Sorgen. Mir geht’s gut. Nett, dass Du so lange auf mich gewartet hast. Es ist schon spät geworden, wir sollten nach Hause gehen. Ich hab‘ jedenfalls Hunger, Du auch?“ Lukas wich irritiert zurück. Freundliche Worte hatte er bei aller Sorge um Lotta nicht erwartet.
„Näh, ich hab‘ keinen Hunger, ich bin nicht so ein Mädchen wie Du“ meinte er, während ein lautes Magenknurren seine Worte Lügen straften. Lotta setzte zu einer Antwort an, die zu seiner Frechheit passte, doch sie besann sich auf das, was sie eben erlebt hatte und tat so, als hätte sie davon nichts mitbekommen. „Ok, ich geh jedenfalls“ verkündete sie kurz, drehte sich um und ging los, nach Hause. Zögernd und mit Abstand folgte ihr Lukas, denn er wohnte in derselben Straße. Das war Lotta nur recht, sie war froh, nicht reden zu müssen. Sie brauchte auch noch eine ganze Weile, um über den Baum und ihre Unterrededung mit dem Ostwind nachzudenken.
Lotta’s Leben ging und geht weiter wie bisher, doch Lotta selbst ist nicht mehr ganz derselbe Mensch, als der sie auf den Baum kletterte. Immer wieder verstrickt sie sich auch heute noch in Streitgespräche und ärgert sich danach über sich selbst. Doch sie ist fest entschlossen, dran zu bleiben, denn wer weiß, vielleicht ist sie ja tatsächlich nicht allein in ihren Bemühungen, die Welt ein wenig friedvoller zu machen…