GAJA

„Möchte noch jemand einen Schluck Kräutertee?“ fragte Kerstin in die Runde. Lotta schüttelte den Kopf. „Bloß nicht. Das Zeug ist ja widerlich“ dachte sie schaudernd und versuchte dabei, ein gleichbleibend positives Gesicht zu machen. Sie dachte an den leckeren Kaffee, den sie am Nachmittag im Büro getrunken hatte. Das half. Sie sah sich in der Runde um und staunte darüber, dass diese Frauen hier relativ „normal“ aussahen, obwohl sie sich regelmäßig bei Kerstin zum Meditieren trafen. Dieser ganze Esoterik-Kram ging Lotta ja eigentlich total auf den Zeiger, sie hielt das alles für kompletten Humbug, aber sie hatte letztens irgendwo gelesen, dass man mit Meditation leichter abnehmen könne und letztendlich deshalb hatte sie sich von ihrer Freundin Laura überreden lassen, einmal mitzukommen. Nun saß sie also hier, nippte zaghaft am faden Kräutertee und fand alles gleichzeitig überraschend normal, dennoch aber etwas seltsam.

„So, wenn wir alle bereit sind, setzen wir uns zurecht… aufrechter Rücken… beide Füße auf den Boden… Hände mit der Handfläche nach oben auf dem Oberschenkel ruhen lassen…“ Kerstin wies mit ruhiger Stimme die Teilnehmerinnen an und im Hintergrund lief leise Meditationsmusik. „Wir atmen dreimal tiiiief und langsam durch die Nase ein und atmen langsaaaam durch den Mund aus…“ Lotta machte, was Kerstin sagte, guckte verlegen, was die Anderen machten. Die hatten alle schon die Augen zu, also schloss auch Lotta die Augen. Zunächst guckte sie aber immer wieder um zu sehen, ob sie beobachtet wurde. Nein, alle hatten die Augen zu. Lotta entspannte sich etwas und versuchte, Kerstins Anweisungen zu folgen. „Wir atmen blaues Licht ein… lassen es durch den Mund unseren Körper nach und nach durchdringen…“ Lotta runzelte die Stirn. Sie fand es schwierig, sich vorzustellen, blaues Licht einzuatmen. Ganz schön schräg. Aber Laura hatte sowas schon angedeutet und Lotta hatte versprochen, sich einmal darauf einzulassen. Also: „Einatmen… blaues Licht… äh… wie war das nochmal…?“ Lotta konzentrierte sich auf ihre Vorstellungskraft und versäumte den nächsten Satz. „…und dringt in den Boden in unserer Mitte ein. Wir folgen mit unserer Aufmerksamkeit dem Lichtstrahl, wie er tief, ganz tief in die Erde eindringt…“

„Oha, jetzt wird’s schräg…“ dachte Lotta leicht irritiert, aber die Vorstellung von Bewegung fiel ihr leichter als nur farbiges Licht zu atmen. Sie merkte, dass sie sich besser auf Kerstins Worte konzentrieren und mitgehen konnte. „Es geht immer tiefer… immer tiefer in die Erde…“ Lotta war sich ziemlich sicher, dass das die gängige Technik war, bei einer Meditation tiefere Bewusstseinszustände zu erreichen. Doch bei ihr schien das nicht zu funktionieren, denn sie war immer noch hellwach und Herrin ihrer Sinne. Das merkte sich vor allem daran, dass ihre Gedanken schon wieder anfingen abzuschweifen. Sie fing ihre Konzentration wieder ein und fuhr fort, mit dem blauen Licht tiefer ins Dunkle vorzudringen. … „Dauert ja ganz schön lang“ dachte Lotta. „Wir kommen irgendwann drüben in Australien wieder raus mit dem blauen Licht, wenn wir so weiter machen.“ Lotta grinste leicht, fuhr aber fort, mit der Konzentration in die Erde zu gehen. „Wir erreichen einen Raum. Seht Euch um, wie sieht dieser Raum für Euch aus?“ Lotta wunderte sich. Sieht der Raum denn für jeden anders aus? Sie sah sich um und fand tatsächlich einen ganz gemütlichen, großen Raum vor. Kuschelig wirkte er und freundlich. Lotta fühlte sich wohl, nur wenn sie daran dachte, tief in der Erde zu sein, hatte sie ein beklemmendes Gefühl. Sie verdrängte den Gedanken und sah sich weiter um. Sie entdeckte einen riesigen, etwas sehr plüschigen, aber auch sehr gemütlichen Fernsehsessel und darin saß eine dicke Frau und strahlte Lotta freudig an. Lotta stutzte. Sie sah die Frau an, die wirklich so aussah, als ob sie sich nichts Schöneres vorstellen könnte, als Lotta hier in ihrem Wohnzimmer stehen zu sehen. Es duftete nach Vanilleplätzchen und Lotta musste lächeln, als die Frau im Sessel sie begrüßte. „Wie schön, dass Du mich besuchen kommst! Du musst Lotta sein. Wie geht es Dir? Nimm doch Platz, möchtest Du eine leckere Tasse Kaffee?“ Lotta setzte sich auf einen zweiten Sessel, wollte aber grade nichts trinken. „Sie scheinen gar nicht überrascht zu sein.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, ich freue mich immer, wenn ich Besuch bekomme.“

Lotta fühlte sich ausnehmend wohl, sie lehnte sich bequem im Sessel zurück. „Ich heiße übrigens Lotta und freue mich hier zu sein. Darf ich fragen, wer Sie sind?“ Wieder strahlte die Frau sie an. „Mein Name ist Gaja und ich freue mich wirklich sehr, dass Du hier bist.“ Lotta hatte fast den Eindruck, Gaja würde sich über sie lustig machen. Da fiel Lotta etwas ein. „A propos hier: wo bin ich hier eigentlich?“
Gaja lachte. Sie lachte so herzhaft und ansteckend, dass Lotta nicht anders konnte als in ihr Lachen einzustimmen. Das musste ja eine lustige Frage sein. „Du bist in der Erde, ungefähr in der Mitte, würde ich sagen, kurz vor dem heißen Kern, deshalb ist es so angenehm warm hier“ erklärte Gaja immer noch lächelnd. „Oh… ja, ich erinnere mich… Ich hätte nie gedacht, dass so etwas möglich ist“ staunte Lotta. „Ach Schätzchen, alles ist möglich. Wirklich alles.“ Gaja strahlte Lotta an und sah so aus, als ob sie wirklich glaubte, was sie sagte. „Na ja… im Traum vielleicht schon… bzw. in der Meditation. Ich träume ja wohl, aber es ist schon seltsam, weil sich alles so real anfühlt.“ Tatsächlich war Lotta jetzt wirklich überrascht. Sie war offenbar so sehr in den so genannten Alpha-Zustand geraten, dass sie sehr real träumte. Wie krass!
Gaja lachte sich schier kaputt, sie musste etwas wirklich Witziges zum Besten gegeben haben, wunderte sich Lotta. „Traum, Realität… wer kann schon immer genau sagen, was was ist.“ Gaja wischte sich die Tränen aus den Augen und zwinkerte Lotta fröhlich zu. Dann stand sie mit einer flüssigen Bewegung auf und nahm Lotta’s Hand. „Komm‘ mit, ich zeig‘ Dir etwas von meiner Welt und Du kannst dann entscheiden, ob es für Dich Traum oder Realität ist.“ Sprach’s und zog Lotta hinter sich her. Sie gingen durch eine Tür und traten in eine andere Welt.

Lotta blieb vor Staunen stehen und musste sich erst einmal umsehen. Sie waren in einem reich und bunt gestalteten Gang, der locker so hoch war wie zwei Menschen übereinander. Das fand Lotta sehr schön, so viel Platz hatte sie sich so weit „unten“ gar nicht vorgestellt. Das erwähnte sie auch gegenüber Gaja. Die schien allerbester Laune zu sein, jede von Lotta’s Bemerkungen schien ein richtig guter Witz für sie, über den sie sich erst einmal vor Lachen ausschütten musste. „Das ist alles eine Frage der Relation, musst Du wissen.“ Gaja’s Augen leuchteten sie an und Lotta konnte ihnen einfach nicht widerstehen. Sie lächelte. Das nahm Gaja als Bestätigung, mit ihr weiter den Gang entlang zu gehen… wobei gehen vielleicht nicht die richtige Bezeichnung war für eine Mischung aus spielerischem Hüpfen und rhythmisch schnellem Gehen. Eher wie ein Kind lief sie den Gang entlang, Lotta sah ihr ins Gesicht und fragte sich, wie alt Gaja sein mochte. Es war einfach nicht zu sagen. In einem Augenblick erschien sie Lotta ganz jung, keine 20 Jahre alt zu sein und etwas später meinte sie eine reife Frau neben sich zu sehen. Lotta schloss daraus, dass es wohl dieses seltsame Licht sein musste, das von nirgendwo und überall her zu kommen schien. Wahrscheinlich hatte Gaja auch einfach gute Gene.

Der Gang führte langsam, aber sicher nach unten, bis er schließlich in eine riesige Öffnung mündete. Hier plätscherte Wasser einige Felsen hinunter und endete in einem Wasserfall, der einen smaragdgrünen See speiste. Klar, leuchtend und geheimnisvoll erschien Lotta das Wasser im See. Leichter Dunst hing über der Wasseroberfläche. Der Rest der Höhle war mit bunten, leuchtenden Steinen ausgelegt. Sie sahen aus wie tausende von Edelsteinen, die mit ihrem Strahlen, Glitzern und Funkeln den Raum in warm schimmerndes Licht tauchten. Etwas so schönes und gleichzeitig so seltsames hatte Lotta noch nie in ihrem Leben gesehen. Sie konnte nur mit offenem Mund die Kostbarkeiten bewundern und bestaunen.

„Hier ist die Quelle aller Quellen, liebe Lotta. Eine so genannte Urquelle. Es handelt sich um eine heiße Quelle, denn wir sind nahe am heißen Erdkern. Von hier aus werden alle Quellen auf der Erde gespeist. Dieses Wasser ist das reinste, das es auf diesem Planeten gibt. Es ist die heiligste aller Quellen“ erklärte Gaja stolz. Lotta wandte sich nun dem Wasser zu, das aus dem Felsen zu kommen schien und fröhlich plätschernd in ein Bassin aus Stein fiel, von wo es über mehrere Abläufe in alle Himmelsrichtungen wieder im Felsgestein verschwand. Vorsichtig trat sie heran und sah Gaja zu, die ihre Hand in den Wasserstrahl hielt. Das Wasser schien ihre Hand zu umschmeicheln, bevor es in den Stein fiel und wurde dabei mit einem liebevollen Blick von Gaja bedacht. Dort, wo das Wasser auf Gaja’s Hand traf, ließen ungezählte Lichtreflexe die Wasseroberfläche glitzern und es sah fast so aus, als würde das Wasser, das von Gaja’s Hand ablief, irgendwie leuchten. Lotta schüttelte irritiert den Kopf, sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als würden sich zwei Lebewesen zärtlich berühren. Ja, genauso sah es aus. „Komisch“… brach es aus Lotta heraus. „Sieht fast so aus, als wäre das Wasser lebendig…“ Wieder lachte Gaja ihr fröhliches Lachen. „Oja, das ist es wirklich. Etwas Lebendiges. Und es ist dazu da, Leben zu spenden.“ Sie freute sich erkennbar über ihr kleines Wortspiel. Sie nahm die Hand aus dem Wasser, das sofort aufhörte, so auffällig zu glitzern, und nickte Lotta freundlich zu. „Versuch es mal. Fühle das Wasser!“ Zögernd streckte nun Lotta die Hand aus und hielt sie in den Wasserstrahl. Ein wohlig-warmes Gefühl durchströmte sie, sobald sie das Wasser berührte. Lotta fühlte das Streicheln des Wassers, das die Hand entlang lief und konnte nicht sagen, was genau sich so überaus angenehm anfühlte. Sie hätte stundenlang hier stehen können mit der Hand im Wasserstrahl, so gut tat die Berührung mit dem Nass. Nur glitzern und leuchten… das tat das Wasser nicht bei Lotta’s Berührung. „Koste doch mal, dieses Wasser ist wirklich etwas Besonderes“ lud Gaja sie ein. Lotta machte sich eigentlich nicht allzu viel aus Wasser, doch sie schmeckte so viel mehr in diesem Wasser als im üblichen Nass ohne Geschmack. Wieder hätte sie nicht sagen können, was es genau war, es war vielmehr eine Kombination von allem, was sie so kannte und mehr. Dieses Wasser schmeckte auf eine Weise süß, die nur angedeutet war, aber besonders angenehm, fand Lotta. Dann wieder lag etwas erdiges und auch etwas spritzig-erfrischendes in seinem Geschmack. Jedes Mal, wenn Lotta einen Schluck nahm, schmeckte sie etwas anderes. Sie hatte noch nie etwas vergleichbar Wohlschmeckendes getrunken und trank deshalb reichlich. Als ihr Durst auf eine wohlige Art gestillt war, setzte sie sich neben ihrer Gastgeberin auf einen Stein um die Frage zu stellen, die ihr schon einige Zeit auf der Zunge lag. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber wer oder was sind Sie eigentlich?“
Gaja beantwortete die Frage erst einmal mit einem lauten, herzhaften Lachen. Ihr ganzer Körper schüttelte sich vor Vergnügen und sie nahm sich Zeit, ihr Lachen zu genießen, bis sie sich kleine Tränen aus den Augenwinkeln wischte. Es war so ein herzliches und lustiges Lachen, dass auch Lotta gerne einstimmte, obwohl sie wirklich nicht hätte sagen können, was an ihrer Frage so komisch war. Als Gaja sich einigermaßen beruhigt hatte, schaute Lotta sie nur fragend an.
„Ich, liebe Lotta, bin Gaja, die Herrscherin der Erde.“ Gaja sagte das ohne besonderes Pathos, doch mit einem gewissen Stolz. Ihr Gesicht veränderte sich bei diesen Worten und für einen Augenblick lang sah sie uralt aus. „So alt wie die Welt“ schoss es Lotta durch den Kopf. Sie hatte sich also vorhin nicht getäuscht: Gaja’s Gesicht veränderte ständig sein Aussehen. Lotta war wirklich beeindruckt. „Die Herrscherin der Erde… tut mir sehr leid, ich hab‘ noch nie etwas von Dir gehört“ meinte sie ratlos. „Oh, das glaub‘ ich, die allermeisten Menschen kennen mich nicht mehr, sie haben mich vergessen.“ Einen Moment lang überschattete Traurigkeit Gaja’s Gesicht, doch nicht lange, dann ließ ihr Lächeln ihre Züge wieder jugendlich erstrahlen. „Umso schöner, dass Du mich heute besuchen kommst. Du musst wissen, dass ich gleichzeitig die Seele, das Herz und die Herrscherin dieses herrlichen Planeten bin. Ich bin so alt wie die Erde selbst, denn ich bin die Erde.“

Diese Ansage musste Lotta erst einmal verdauen. Ein Planet, der lebendig ist? Eine Erde, die eine Seele hat? Etwas Ähnliches hatte Lotta noch nie gehört. Sämtliche Fragezeichen und Zweifel waren ihr ganz offensichtlich ins Gesicht geschrieben, denn Gaja sah sie an und brach erneut in ihr unglaublich fröhliches Lachen aus. Unter diesen Umständen konnte sich Lotta nicht allzu lange auf ihre Zweifel konzentrieren. Ihr Gesicht hellte sich auf und sie legte einfach los mit ihrer ersten Frage. „Wie kommt’s, dass ich von Dir noch nie in der Schule gehört hab‘? Wieso hab‘ ich Dich noch nie im Fernsehen oder bei Talkshows gesehen? Und wieso bist Du die Erde, wie kann denn das gehen???“ Lotta stoppte eigentlich nur um Luft zu holen, denn es drängelten sich in ihrem Kopf noch ganz viele Fragen, die gestellt werden wollten. Gaja’s belustigtes Gesicht, das augenblicklich keinen Tag älter schien als Lotta selbst, ließ sie zögern, denn sie strahlte. Lotta versuchte ihren Blick zu justieren, aber es war immer noch deutlich sichtbar. Gaja strahlte, sie leuchtete quasi von innen heraus. Als ob jemand eine Lampe in ihrem Inneren eingeschaltet hätte. Sie sendete ein warmes Licht aus, das Lotta nahezu körperlich gut tat. Unwillkürlich rückte sie etwas näher heran, als Gaja auch schon begann zu erzählen: „Weißt Du, als die Menschen auf dieser Erde noch jung waren, kamen wir gut miteinander aus und wir waren uns sehr vertraut. Das war eine Zeit ohne Technik, eine Zeit, in der die Menschen mit der Natur lebten und von ihr abhängig waren. Blitze wurden damals noch als der Zorn der Götter interpretiert und das Feuer war ein kostbar gehütetes Gut, denn es hielt Raubtiere auf Abstand, spendete Wärme und lieferte die Möglichkeit, die Nahrung zuzubereiten.
Nun, das ist lange her. Ihr Menschen seid neugierig und habt Euch die Welt erobert. Ihr habt die Technik entdeckt und viele Zusammenhänge in der Natur. Je mehr ihr die Phänomene des Wetters und der Natur enträtselt habt, desto mehr habt Ihr auch den Glauben an den Zauber und an die Magie verloren. Ach, Ihr ward und seid immer noch so stolz auf alles, was Ihr erforscht und herausgefunden habt, dass Ihr die Magie dahinter heute gar nicht mehr wahrnehmen könnt.“ Gaja lachte etwas und seufzte danach. Ihr Gesicht wurde weich. „Ihr seid immer noch so begeistert und beschäftigt mit den Werkzeugen, die Ihr für Euch entdeckt und weiter entwickelt habt, dass Ihr Euch gar nicht mehr vorstellen könnt, dass es etwas außerhalb der Messbereiche Eurer Werkzeuge gibt. Nun stoßt Ihr aber langsam an die Grenzen dessen, was mit Euren Apparaturen messbar ist und habt noch nicht verstanden, Euch von dieser eingeschränkten Sicht- und Denkweise zu lösen. Aber es wird geschehen. Bald.“ Gaja’s Augen leuchteten wie Diamanten, als sie das sagte. Bevor Lotta es unheimlich finden konnte, verglomm der Glanz ihrer Augen zu kleinen Lichtreflexen.

„Krass! Ey, das ist das krasseste, was ich je erlebt habe“ entfuhr es Lotta. Anders konnte sie ihr grenzenloses Staunen über diesen Ort, über Gaja und über das, was sie zu erzählen hatte, einfach nicht mehr in Worte fassen. „Man könnte meinen, wir wären irgendwie auch Deine Kinder, wenn man Dir so zuhört“ dachte Lotta laut. Wieder schien Gaja von innen her zu leuchten. „Aber so ist es auch, Du bist ein Kind Deiner Mutter aber auch ein Kind dieser Erde und als das liebe ich Dich.“ Wieder dieses erstaunliche Leuchten, das noch heller zu leuchten schien als eben noch. „Deshalb sagt wohl der Pfarrer bei der Beerdigung immer sowas wie aus dem Staub kommst du und zu Staub wirst du… oder so, was?!“ Gaja nickte lebhaft und lachte ihr unwiderstehliches Lachen. Es dauerte etwas, bis sie ausgelacht hatte, doch irgendwann wurde erzählte sie ernst weiter.

„Ihr Menschen seid ein Stück Natur, ein Teil dieser Erde, doch im Moment habt Ihr Euch in Eurem Forschungsstreben etwas verrannt, Ihr habt völlig vergessen, dass die Erde und alles, was auf ihr lebendig ist. Ihr habt mich vergessen, jedenfalls die meisten von Euch. Deshalb spricht niemand mehr über mich oder gar mit mir.“ Gaja’s Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an und wirkte sehr alt. „Ihr habt viel neues Wissen angesammelt und dabei das alte Wissen völlig vergessen. Ihr könnt das alte mit dem neuen Wissen gar nicht mehr in Einklang bringen, weil Ihr Euch in einen verengten Blickwinkel verrannt habt und nicht sehen könnt. Ihr seid etwas arrogant geworden, weil Ihr nichts mehr außerhalb Eurer Wissenschaften für möglich haltet. Dabei könnt Ihr im Moment nur einen winzig kleinen Teil des Universums sehen, das große Ganze aber schon lange nicht mehr. Ihr habt sogar vergessen, daran zu glauben. Weißt Du, Lotta, die Menschheit hat sich in ihren Wissenschaften verloren. Es ist, als ob Ihr Kinder aus dem Sandkasten nicht mehr herausfindet, dabei wäre es zu schade, nicht den gesamten Spielplatz zu entdecken.“ Der traurige Ausdruck auf Gaja’s Gesicht schwand dahin und machte der jungen, nachsichtigen Mine einer Mutter Platz, die ihre Kinder aus der Sackgasse befreien will.

„Schon bald werden die Menschen merken, dass ihre kleine Welt nur ein Staubkorn im Universum ist und dass ihre Forschungen sie viel zu oft irregeleitet haben. Immer mehr Menschen werden anfangen, ihren Blickwinkel zu erweitern, immer mehr Menschen werden anfangen zu sehen. Es hat schon begonnen.“ Lotta hatte mit großen Augen zugehört und schnappte nun nach Luft, also hätte sie lange den Atem angehalten. Gaja leuchtete erneut auf, sah Lotta mit ihren funkelnden Augen an und der Schalk blitzte förmlich aus ihren Augen. Unternehmungslustig stand sie auf und nahm Lotta’s Hand. „Komm mit, ich möchte Dir etwas zeigen“ sagte sie und schien es plötzlich sehr eilig zu haben. Sie zog Lotta hinter sich her und eilte einige Gänge entlang. Lotta konnte nicht sagen, wie weit sie gelaufen waren, es schien einige Minuten zu dauern, bis sie an einen Ort kamen, bei dessen Anblick Lotta regelrecht die Kinnlade herunter klappte. Sie standen in einem riesigen Raum. Die Decke war bestimmt höher als ein Haus und sie war über und über mit schimmerndem Perlmutt bedeckt. Stalaktiten hingen hie und da von der Decke und sie glitzerten und leuchteten in allen Farben – ähnlich wie prunkvolle Leuchter, dachte Lotta. Die Wände waren teils bedeckt mit ebenso bunt schimmernden Steinen, durchzogen von dickem, dunklem Holz, das sich wie Ornamente in die Struktur des Steines einfügte. Moos leuchtete an manchen Stellen in allen Grünschattierungen und spendete einen intensiv erdigen Duft, der angenehm den Raum erfüllte. Gaja und Lotta schritten über eine gold-braun glänzende Fläche, die wie poliert glänzte. Lotta konnte sich lange nicht erklären, aus welchem Material er bestand, denn er sah aus wie Bernstein, doch lupenrein und das über die gesamte Fläche hinweg. Der gesamte Boden schimmerte und glänzte wie poliert in unterschiedlichen Braun-Tönen, die dem Raum eine unglaubliche Tiefe gaben. An diesem Ort fühlte Lotta sich so wohl wie selten in ihrem Leben. Alles war stimmig, angenehm und nichts schien das Wohlbehagen trüben zu können. In der Mitte des Raumes brannte ein Feuer in einem riesigen Steinbecken. Es schien ganz aus sich selbst heraus zu brennen, Lotta konnte weder Holz, noch anderes Brennmaterial sehen. Um das Feuerbecken herum zog sich ein Wasserband, dessen Oberfläche von einer leichten, lauen Briese in kleine Wellen gekräuselt wurde. Der Effekt war eine Faszination, die den Blick auf sich zog und festhielt. Es war geradezu meditativ, sich in der Betrachtung des Feuers und des Wassers zu verlieren… Lotta atmete dabei den Duft dieses lauen Windes ein, der gleichzeitig nach Erde, nach Salzwasser und nach Blumen duftete. Unwillkürlich weiteten sich ihre Lungen und sie genoss die frische Luft, die ihre Lebensgeister weckte und gleichzeitig entspannend auf sie wirkte.
Gaja griff noch einmal nach Lotta’s Hand und begleitete sie zu einem großen Felsen, auf dessen Vorsprünge Flechten wuchsen, die teilweise leuchtend bunt blühten. Üppige Pflanzen und bunte Blüten zogen sich über eine Felsenfläche, die fast die Hälfte des Raumes einnahm. Lotta bemerkte huschende Bewegungen und entdeckte drollige Erdhörnchen, die neugierig aus Erdlöchern lugten und von einem Loch zum nächsten flitzten. Lotta liebte Erdhörnchen und beobachtete hingerissen die lustigen Kerle, die wie ihr zu Gefallen, besonders häufig Männchen machten, mit ihren großen, schwarz-blitzenden Augen die Umgebung absuchten und dann urplötzlich drehten und mit einer flinken Bewegung in den unterirdischen Gängen verschwanden. Als Gaja vor den Felsen trat, tauchten auf einen Schlag aus sämtlichen Löchern gleichzeitig Erdhörnchen auf und alle wandten sich Gaja und Lotta zu. Sie schienen alle auf etwas zu warten, während Lotta vor Staunen darauf achten musste, dass ihre Kinnlade nicht ständig nach unten klappte. Gaja schien mit jedem einzelnen Tier Augenkontakt zu haben und obwohl kein Laut zu hören war, konnte Lotta deutlich sehen, dass eine Art Kommunikation zwischen den Tieren und Gaja statt zu fand. Nach wenigen Augenblicken machte Gaja eine winkende Geste und wie auf Kommando drehten sich die Erdhörnchen alle um und verschwanden in einer schnellen Bewegung im Erdreich.
„Krass!“ entfuhr es Lotta. „Was war DAS denn? Sie können mit den Tieren sprechen? Mit allen Tieren? Das würde ich auch gern können.“ Was für eine aufregende Vorstellung, fand Lotta. Gaja drehte sich fröhlich lächelnd zu Lotta und erklärte: „Aber natürlich. Alle Tiere sind meine Kinder, genauso wie Ihr Menschen. Meine Erdhörnchen sind Boten, denn sie lieben die Geschwindigkeit, sie verbreiten meine Nachrichten schnell und zuverlässig.“ Wie auf’s Stichwort schaute Gaja an ihrem Bein hinab, wo ein Erdhörnchen auf den Hinterbeinen stand und offenbar stumm mit ihr sprach. Beide sahen sich an und konzentrierten sich auf ihren Austausch. Gaja lachte plötzlich wieder ihr herzliches Lachen und wandte sich an Lotta. „Darf ich vorstellen: das ist Flix, eines der schnellsten Erdhörnchen, die für mich unterwegs sind. Er wollte Dich kennen lernen und meint, er mag Deine Augen.“ Flix wartete ab, bis Gaja gesprochen hatte und machte dann eine Bewegung, die einem stolzen Kopfnicken sehr nahe kam. Bei einem so niedlichen Tier wie dem Erdhörnchen sah diese Geste einfach zuckersüß aus, fand Lotta und kniete sich hin, um mehr auf Augenhöhe mit Flix zu sein. „Es freut mich sehr, Dich kennen zu lernen, Flix. Ich bin Lotta und ich mag Deine Augen auch sehr“ entgegnete Lotta etwas schüchtern und ungelenk. Sie überlegte noch, ob sie dem Tier eine Hand reichen sollte, doch diese Geste war wohl zu menschlich, also beließ sie es bei einem freundlichen Lächeln und einem Nicken. Flix schien sich über Lotta’s Antwort zu freuen, denn er rannte einmal um Gaja und Lotta herum, stellte sich wieder vor den Beiden auf, machte Männchen und schien mit seinen großen, dunkel glänzenden Augen ganze Geschichten zu erzählen. Dabei sah er Lotta konzentriert an, bis sein Blick zu Gaja wechselte. Lächelnd übersetzte diese, dass Flix von Lotta regelrecht hingerissen sei. „Darf ich ihn denn streicheln? Ich meine: nur wenn er das nicht als despektierlich empfindet.“ Lotta ahnte, dass auch kleine Lebewesen empfindliche Seelen besitzen. Gaja übermittelte das gerne und als Antwort rückte Flix dicht an Lotta heran und schon seinen Kopf unter Lotta’s Hand. Das bedurfte keiner Übersetzung, sie streichelte begeistert das überraschend drahtige Fell des Erdhörnchens und merkte, dass er es gerne mochte, wenn sie ihn hinter den kleinen Öhrchen kraulte. Er schien es wirklich zu genießen und Lotta hätte stundenlang so weitermachen können. Gaja jedoch räusperte sich irgendwann leise, worauf Flix sofort aufsprang und sich einen Moment ganz auf Gaja konzentrierte. Er hatte wohl einen Auftrag bekommen, wie’s schien, denn er legte seine Vorderpfote kurz auf Lotta’s Hand, zwinkerte ihr zu und war mit einer flinken Bewegung im nächsten Erdloch verschwunden. Lotta kniete noch immer der Stelle, wo sie das Tier gekrault hatte und konnte kaum fassen, dass es ihr wahrhaft zugezwinkert hatte.

„Sie haben Flix doch eben einen…äh… Auftrag erteilt, richtig?“ wollte Lotta wissen. Gaja nickte fröhlich. „Was für eine Art Auftrag war das denn, bitteschön? Was für Nachrichten versenden Sie auf diese Art und an wen??? Gaja schien nur auf diese Frage gewartet zu haben. Sie ging mit Lotta zurück zur Mitte des Raumes, wo neben dem Wasserband aus dem gleichen harzartigen Stoff wie dem Boden Sitzgelegenheiten standen. Sie erwiesen sich als überraschend bequem und Gaja lehnte sich entspannt zurück, als sie Lotta erklärte: „Du musst wissen, dass es neben dem Kreislauf der Natur, der in erster Linie mit den Jahreszeiten zu tun hat und mit den unterschiedlichen Lebensspannen, auch übergeordnete Zusammenhänge gibt. Dazu gehören die Strömungen der Meere, die das Wasser um unseren wunderbaren Planeten herum in Bewegung und am Leben erhält. Es gehören die Winde dazu und das Wasser auf dem Land, das entweder in Flüssen und Bächen, aber auch in der Luft als Wolken, als Regen und Schnee und schließlich auch als Eis die Erde am Leben erhält. Es fehlt dabei nur noch das Element Feuer, das aus der Erde kommt und die Erdplatten in Bewegung hält, aber auch befestigt. All das ist ein komplexes Ganzes, das in einem großen System sich gegenseitig bedingt und beeinflusst. Es passiert nichts, was nicht auf das gesamte System Auswirkungen hat.“

Lotta hatte mit konzentriertem Gesicht zugehört. „Wie kann das sein, dass alles Auswirkungen hat? Das würde ja bedeuten, dass ein Platzregen in Neustadt sich auf die Wüste Gobi in Asien auswirkt?! Wie kann denn so etwas sein? Das ist doch etwas übertrieben, oder?!“ Wieder einmal lachte Gaja herzlich, ihr Bauch hüpfte beim Lachen und sie hatte Tränen in den Augen. Lotta staunte, sie kannte wirklich niemanden, der so herzhaft und so oft lachen konnte. „Im Grunde genommen verhält es sich aber genauso. Selbst der Platzregen in Neustadt beeinflusst das Klima in der Wüste Gobi, weil er Einfluss hat auf den Wasserhaushalt der Erde. Es ist ungefähr so, als würdest Du einen Tropfen Wasser in einen riesigen, stillen See fallen lassen. Auch wenn es nur ein kleiner Tropfen ist, so setzt er doch Wellen in Gang, sie sich über unzählige Kilometer ausbreiten. Auch wenn Du sie längst nicht mehr sehen oder spüren kannst, können doch kleine Lebensformen sie immer noch deutlich fühlen. Jedenfalls bin ich es, die das ganze System in der Balance hält. Flix ist augenblicklich unterwegs zu den Gletschern in den Südtiroler Alpen. Er bringt dem Eis die Bitte, so lange wie möglich fest zu bleiben. Im Moment versuche ich, den Schaden, den die Menschen durch ihre Verschmutzungen am Klima angerichtet haben, so gut es geht auszugleichen um ihnen Zeit zu geben, etwas dagegen zu tun. Ein Bruder von Flix ist unterwegs zu den Wäldern an den südtiroler Bergen um dort das Wachstum von Moos anzuregen. Ihr habt es auch schon bemerkt, dass Moose Schadstoffe aus der Luft filtern und umwandeln können. Manche Moosarten sind besonders alt, sie haben sich aus riesigen Bäumen der Steinzeit zu überaus widerstandsfähigen und starken Moosen der Gegenwart entwickelt. Statt der Größe zeichnet sie nun ihre Stärke und ihre Widerstandskraft aus. Das war eine meiner Vorsichtsmaßnahmen…“ Gaja’s Zwinkern war einfach unwiderstehlich, Lotta grinste breit zurück. Fast hätte sie ihre Frage wieder vergessen, doch dann meinte sie: „Hab‘ ich das richtig verstanden? Wir machen Dreck in die Luft, ins Wasser und überall hin und Du versuchst uns trotzdem zu helfen??“ Ungläubig riss Lotta die Augen auf. „Aber sicher, Ihr Menschen seid doch genauso meine Kinder wie die Bäume, die Berge und die Tiere. Ich suche ständig nach Lösungen, die Euch Zeit verschaffen, zu lernen, was Ihr lernen müsst um auch in Zukunft auf diesem Planeten leben zu können. Auch die Bäume helfen, wo sie können, das Wasser genauso, wir können das nur alle zusammen schaffen. Gaja’s Stirn umwölkte sich und für einige Augenblicke sah sie uralt und runzelig aus. “Es ist eine schwierige Aufgabe für die Menschheit, denn die Aufgabenstellung ändert sich von der Sicherstellung des Überlebens der Menschen hin zur Gestaltung des Lebens im Einklang mit den Bedürfnissen unseres Planeten. Die Ausrichtung der Bemühungen aller menschlichen Tätigkeitsbereiche muss korrigiert werden, aber dafür ist ein anderes Bewusstsein notwendig, das sich bislang aber noch nicht vollständig manifestiert hat. Das ist ein Problem.“

Noch bevor Lotta das volle Ausmaß und die Bedeutung ihrer Worte bewusst wurde, leuchtete Gaja’s Gestalt wieder deutlich und das Lachen huscht wieder auf Gaja’s Gesicht. „Mach Dir keine Sorgen, wir tun alles um den Menschen zu helfen. Zusammen werden wir das Kind schon schaukeln…“ Gaja’s Satz verlor sich in einem weiteren Lachanfall. „Was für witzige Sprüche Ihr doch habt…“ kicherte sie und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. In diesem Moment sah Gaja aus wie ein 12jähriges Mädchen. Lotta konnte nur noch staunen.
„Dafür, dass wir Menschen dabei sind, die Erde mit unserem Dreck zu zerstören, hast Du aber bemerkenswert gute Laune…“ So, jetzt war’s raus. Die Bemerkung hatte Lotta schon eine Weile auf der Zunge gelegen. Gaja reagierte so, wie Lotta schon fast geahnt hatte: sie schüttelte sich wieder einmal vor Lachen. Ihr ganzer Körper schüttelte sich und sie genoss ihr Lachen, das konnte man sehen.

„Was wäre denn die Alternative, liebe Lotta? Die Sorgenfalten pflegen und sich fürchten oder gar ärgern? Das würde niemandem helfen. Weißt Du, dass der Humor eine ganz herausragende menschliche Eigenschaft ist? Er ist mit nichts zu vergleichen und kann negative Energie in positive Kraft umwandeln. Deshalb hab‘ ich mir das Lachen zu eigen gemacht: um positive Energie in die Welt zu bringen. Lachen ist ansteckend und verbreitet sich, wenn man großzügig damit umgeht. Die Welt braucht dringend mehr Lachen. Das Lachen, Tanzen und die Liebe… das menschliche Leben sollte davon erfüllt sein. Aber die Menschen denken zu viel…. seufzte Gaja. Glück und Wohlergehen erscheinen den Meisten noch fremd, doch sie sollten normal für Euch werden. Da wollen wir hin.“ Gaja’s ganze Gestalt erstrahlte fast überirdisch bei ihren letzten Worten. Lotta selbst wurde von einer Euphorie erfasst, die sie gar nicht von sich kannte. Sie hätte Bäume ausreißen können… ok, die nun grade nicht, aber der Satz „Hier bin ich, wo steht das Klavier…!“ schoss ihr spontan durch den Kopf und nun grinste sie wirklich von einem Ohr zum anderen. Und dann musste Lotta selbst, ganz ohne Grund, auf einmal lachen. Irgendetwas war einfach wahnsinnig lustig, schön oder was auch immer, alles zusammen eben. Lotta lachte. Und Gaja lachte mit ihr. Gemeinsam lachten sie, schüttelten sich und hielten sich den Bauch, denn sie konnten gar nicht mehr aufhören und sie wollten es auch nicht. Es tat unglaublich gut, lauthals und frei zu lachen – ohne Grund und einfach so. Nach einer gefühlten Ewigkeit und zahlreichen Versuchen ernst zu werden, nur um plötzlich prustend von neuem loszulachen, beruhigten sich Lotta und Gaja wieder. Sie saßen noch ein paar Augenblicke grinsend nebeneinander, bevor Gaja, immer noch lächelnd erklärte: „So funktioniert es. Lach‘ so viel und so oft Du kannst, etwas Besseres kannst Du für Deine Umwelt gar nicht tun. Wer herzhaft lacht, hegt keine negativen Gefühle, wird nicht als Bedrohung wahrgenommen und teilt sich auf positive Art sogar Menschen mit, die sich gar nicht in unmittelbarer Nähe aufhalten. Lachen reinigt die Atmosphäre und schafft Wohlbehagen. Wer lacht, bedeutet keine Gefahr und wirkt anziehend auf seine Mitmenschen. Lachende Menschen sind gesünder und glücklicher, denn mit Deinem Lachen ziehst Du das Glück in Dein Leben.“

Lotta hörte sich alles verwundert an. „Aber wenn es so einfach ist, weshalb tut das nicht Jeder?“ fragte sie skeptisch. „Oh, weil es einfach ist, aber nicht leicht!“ war prompt die lächelnde Antwort. Lotta runzelte die Stirn, dachte über den letzten Satz nach und lächelte, als sie begriff, was Gaja gemeint hatte. Wenn man so durch seinen Alltag hetzt, hat man meist nicht viel zu lachen. Da ist es nicht leicht, sich ein Lachen zu entlocken. Aber es lohnt sich, fand Lotta und nahm sich vor, sich das Lachen anzugewöhnen.

Gaja sah auf, es sah aus, als hätte sie etwas gehört. Dann sah sie Lotta liebevoll an. „Ich fürchte, Dein Besuch ist nun vorbei. Schade, aber ich hoffe, Du schaust wieder einmal vorbei, Du bist jedenfalls immer herzlich willkommen.“ Lotta war überrascht. „Wieso vorbei?“ Sie hatte überhaupt nicht auf die Zeit geachtet, sie einfach zu sehr mit Staunen und Wundern beschäftigt gewesen. „Eure Meditation neigt sich dem Ende zu, Du musst wieder zurück“ lächelte Gaja und erstrahlte zum Abschied in ihrer vollen Pracht.
Lotta hatte ganz vergessen, dass sie ja eigentlich in einer Meditationsrunde gesessen hatte. Wie in aller Welt war sie denn dann hier gelandet? Alles an diesem Ort fühlte sich so real an, auch wenn es noch so fantastisch war. Sollte das alles etwa nur ein Traum sein? „Träume ich denn das alles, Gaja? Oder ist das die Wirklichkeit??“ Lotta fragte und machte eine Geste, die ihre Umgebung und auch Gaja selbst mit einbezog.
„Die Wirklichkeit hat viele Facetten, liebe Lotta. Dies ist auf alle Fälle eine davon, auch wenn sie augenblicklich nur für Dich real ist. Das heißt nicht unbedingt, dass Du träumst. Keine Angst, alles, was Du gesehen hast, ist real.“… Gaja’s Stimme wurde leiser und vermischte sich mit einer anderen, die im Gegensatz dazu immer lauter wurde.

„Wir kommen wieder zurück und fühlen unseren Körper, der auf dem Stuhl sitzt. Wenn Ihr soweit seid, macht die Augen auf und streckt Euch, wenn Ihr wollt.“ Es war Kerstin’s Stimme, die Lotta nun hörte und als sie ihre Augen auf machte, fand sie sich in diesem fremden Wohnzimmer wieder, im Kreis mit vier anderen Frauen um einen Tisch sitzen, auf dem immer noch die Tassen mit Kräutertee standen. Die Anderen ruckelten sich auf ihren Stühlen herum und griffen nach ihren Teetassen, die von Kerstin mit Kräutertee wieder aufgefüllt wurden. Lotta hatte ihren Tee kaum angerührt und wollte auch jetzt keinen Nachschlag. Dafür griff sie gerne in die Schale mit Nüssen und Salzstangen. Im Gegensatz zu den anderen Meditationsteilnehmerinnen, die sich völlig unaufgeregt gaben, hatte Lotta große Schwierigkeiten, das während der Meditation Erlebte irgendwie einzuordnen.
In einer kleinen Gesprächsrunde erzählten und verglichen alle, was sie gesehen und gefühlt hatten. Lotta hörte genau zu, doch nicht einmal wurde etwas geschildert, das auch nur annähernd an das Szenario heran reichte, das sie erlebt hatte. Sie blieb die meiste Zeit still sitzen und hörte zu. Auf Fragen antwortete sie recht einsilbig und war dankbar dafür, dass man sie weitgehend zufrieden ließ.
Langsam löste sich die Runde auf und die Frauen verabschiedeten sich nacheinander. Lotta hatte es eilig, nach Hause zu kommen und drängte Laura unauffällig zum Aufbruch. Als sie sich von der Gastgeberin verabschiedete, fragte Kerstin freundlich, ob es ihr denn gefallen hätte. „Ja, es hat mir sehr gefallen, danke.“ Lotta konnte beim besten Willen nichts anderes dazu sagen. „Es war… sehr interessant und sehr… lustig.“ Kerstin stutzte und sah Lotta überrascht an. Von einem Augenblick zum nächsten erinnerte sich Lotta und konnte nicht anders: sie lachte. Statt sich zu wundern, stimmte Kerstin spontan in ihr Lachen ein und beide schütteten sich zur Verblüffung der letzten Frauen, die noch ihre Jacken anzogen, aus vor Lachen, bis ihnen die Tränen die Sicht nahm. Ohne ein weiteres Wort der Erklärung drückten sich die beiden Frauen herzlich zum Abschied und Lotta nahm sich vor, irgendwann wieder zur Meditation zu kommen. Dann würde sie allerdings Kaffee mitbringen.