EIN BAUM NAMENS LOTTA

Ein Baum namens Lotta
Lotta rannte. Sie war auf dem Weg vom Badesee nach Hause, als ihr Fahrrad einen Platten hatte. Ihre Freunde waren bereits voraus gefahren und sie war eine der letzten, die die Liegewiese am See verlassen hatte, denn eine Gewittervorhersage veranlasste die meisten Badegäste, frühzeitig aufzubrechen. Ausgerechnet heute hatte Lotta ihr Handy zu Hause gelassen, denn sie wollte nicht darauf aufpassen müssen, wenn sie schwimmen ging. Nun lag der Feldweg einsam und verlassen vor ihr und sie konnte niemanden anrufen. Also schloss sie das Fahrrad kurzerhand an einem Straßenschild ab und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Es dauerte allerdings nicht lange, da brach das Gewitter über sie herein. Lotta war weise genug, es sich in einer Unterführung so bequem wie möglich zu machen, noch bevor es so richtig losging. So hatte sie wenigstens ein sicheres Dach über dem Kopf, als Blitz und Donner um sie herum tobten. Lotta hatte keine Angst vor Gewitter, aber hier draußen war’s lange nicht so gemütlich und sicher wie in ihrem Zimmer zu Hause. Die Hitze des frühen Nachmittags hatte sich schlagartig abgekühlt, so dass es ungemütlich frisch war und Lotta rutschte unruhig auf dem inzwischen kalten Beton hin und her. Sie war froh, als endlich die Donner immer leiser wurden und die Blitze sich weiter entfernten. Lotta war inzwischen kalt geworden, doch es regnete immer noch heftig und schien auch gar nicht nachlassen zu wollen. Sie wartete noch etwas ab, aber irgendwann war es Lotta egal. Sie wollte endlich nach Hause, unter die heiße Dusche und danach auf’s trocken-warme Sofa. Also lief sie los in den Regen. Nach wenigen hundert Metern war Lotta nass bis auf die Haut und trottete immer weiter, bis ihr unweit vom Waldrand eine prächtige Weide mit dichter, großer Baumkrone auffiel, die an einem kleinen Bach stand und einladend auf sie wirkte. Sie eilte durch den noch immer anhaltenden Regen über die Wiese und stellte sich dann in den Schutz der ausladenden Baumkrone. Das Gewitter war ja nun vorbei, da dürfte hier keine Gefahr drohen, so war ihre Überlegung. Lotta warf ihre Tasche hin und suchte nach einem bequemen Sitzplatz am Baumstamm. Der bot sich ihr in Form einer Baumwurzel, die wie eine bequeme Sitzfläche geformt war. Darunter war eine Kuhle, so dass Lotta das Gefühl hatte, auf einem bequemen Stuhl zu sitzen. Das Holz war, ganz im Gegensatz zum Beton in der Unterführung, angenehm warm und so ruckelte Lotta sich leise seufzend bequem zurecht und angelte nach dem Rest der Kekse in der Packung, die sie zum Schwimmen dabei hatte. Hier im Schutz der Weide fand sie es beinahe behaglich, denn während Lotta ihren Hunger stillte, schmiegte sich ihr Rücken an den Baumstamm, der selbst in der abgekühlten Luft noch reichlich Sommerwärme abzugeben schien. Hier saß sie nun trocken und relativ warm, so dass ihre gute Laune schnell zurückkehrte. Sie lächelte, als zwei Spatzen sich langsam in ihre Nähe trauten, um die Kekskrumen aufzupicken, die Lotta hinterlassen hatte. Sie hielt ganz still um die grazilen Vögel nicht zu erschrecken und wunderte sich gleichzeitig, wie zutraulich sie waren.
Lotta saß gesättigt unter dem Baum und sah dem Regen zu. Dieser Landregen, der wie ein schwerer, lebendiger Vorhang auf das Land fiel, hatte eine hypnotische Wirkung auf Lotta. Sie konnte die Augen nicht von den dicht fallenden, dicken Regentropfen nehmen, die um sie herum fielen. Wie behaglich doch die Sicherheit des dicken Baumstamms war. Er schien sie nicht nur zu stützen, er schien sie zu umgeben, zu trösten und zu schützen. Lotta fühlte sich absolut sicher und beschützt, als ob etwas Lebendiges seinen Arm um sie gebreitet hätte. Sie fühlte es mehr, als sie es hörte: ein sanftes Singen. Nur wenige Töne, aber harmonisch in einander übergehend, leise und doch deutlich. Sie sah sich um, neugierig, wer hier wohl singen mochte, bei dem Regen…
Sie konnte niemanden entdecken. Der Regen verbarg alles, was weiter weg lag, er machte aus dem Baum und seiner unmittelbaren Umgebung eine trockene Oase der Sicherheit und Geborgenheit. Lotta konnte nicht anders: sie fühlte sich wohl. Ihr Rücken rieb sich etwas am Holz und sie seufzte dazu. Daraufhin hörte Lotta das Singen deutlicher und irgendwie näher. Es war ähnlich einem Mantra, das sie bei den Meditationssitzungen mitunter sangen. Irgendwie war es, so fremd es auch klang, doch irgendwie vertraut. Ohne nachzudenken, stimmte Lotta summend in den Singsang mit ein und sofort vereinte sich ihre eigene Stimme mit dem Singen, als passten sie perfekt zusammen. Alles hörte und fühlte sich stimmig an, als ob sie genau dort wäre, wo sie hin gehörte. Ohne dass sie hätte sagen können, weshalb, fühlte Lotta etwas. Sie war sich erst nicht sicher, doch je länger sie da summend am Baum saß, desto stärker wurde das Gefühl und das Wissen darum, was es war: Glück. Lotta war glücklich. Sie fühlte sich leicht, sicher und geborgen. Sie lächelte und sah den Spatzen zu, die immer noch in ihrer Nähe herum hüpften und wohl auf weitere Kekskrümel warteten. Lotta atmete tief ein und fühlte sich wohl. Sie stimmte erneut in den Singsang mit ein und irgendwie war es ihr, als würde der Baum sie immer weiter umhüllen. Das war nicht unangenehm, ganz im Gegenteil: es war, als ob er sie umarmen würde, als ob er sie aufnehmen würde in sich und tatsächlich wurde Lotta immer mehr Teil des Baumstammes, der sie nun wie ein schützender Kokon umgab. Nach wie vor konnte Lotta in den Regen sehen, den Tropfen zusehen und den Duft der feuchten Erde einatmen. Sie wurde aber gleichzeitig immer mehr zu einem Teil des Baumes und fand das höchst angenehm. Sie fühlte die Baumkrone über ihr, sie konnte fühlen, wie die Äste und Zweige sich im Wind bewegten. Sie fühlte auch die Wurzeln, die sich in der warmen Erde ausstreckten. Lotta stimmte in das Singen ein und klang in Harmonie mit dem Singen der Erde und der Natur um sie herum. Ja, es waren die Pflanzen und die Erde, die im harmonischen Singsang klangen, das begriff Lotta langsam. Es war ein wirklich seltsamer Zustand, doch sie konnte sich nur leise wundern. Lotta fühlte sich viel zu wohl und richtig, als dass sie sich mit Zweifeln und Fragen hätte aufhalten wollen. Sie genoss für eine ganze Weile das Einssein mit der Natur um sie herum. Ihr Zeitgefühl war ihr völlig abhanden gekommen. Irgendwann ließ der Regen nach und die Spatzen flogen fröhlich davon, Bienen kamen angebrummt und suchten in den leuchtenden Blüten des Löwenzahns zwischen den Baumwurzeln nach Nektar. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und erwärmte die Luft. Die Sonnenstrahlen leckten die Regentropfen von den Blättern und ein intensiver Duft benebelte beinahe die Sinne: die Blumen öffneten ihre Blüten und dufteten um die Wette, während die Erde, die reichlich Sommerregen getrunken hatte, ihren samtigen Duft verströmte. Lotta war wie im Rausch der Sinne und schien alles viel deutlicher und differenzierter wahrzunehmen. Insekten kamen aus ihren Verstecken hervor und krochen, kletterten und krabbelten eifrig herum, immer auf der Hut vor Vögeln, Mäusen und anderen natürlichen Feinden, die ihrerseits hungrig waren und Nahrung suchten. Alles hat seinen Platz, wusste Lotta. Es gab nichts zu bedauern und nichts zu verändern. Lotta spürte, wie die Kraft den Baumstamm entlang floss. Sie fühlte sich selbst durchströmt und spürte die feinen Erschütterungen der Äste im Wind. Es fühlte sich an, als ob all die Äste und Zweige ihre eigenen Arme und Hände wären. Alles in perfekter Harmonie auf einander abgestimmt. Sie fühlte den lauen Sommerwind durch ihre Äste und Zweige streichen und ihre Blätter liebkosen. Sie fühlte die sanfte Berührung des Windes, wie er leicht die Blätter bog und gegen einander strich, so dass sie mit einem leisen Flüstern in das Singen mit einstimmten. Die Vögel zwitscherten nun dazu und der Bach untermalte mit seinem fröhlichen Plätschern das Konzert der Natur.
Lotta summte und lauschte gleichzeitig der Musik, dabei nahm sie die trappelnden Füßchen der Käfer wahr, die den Baumstamm entlang eilten. Sie spürte die kleinen Klauen der Vögel, die auf den Zweigen der Baumkrone saßen und sich festhielten. Lotta konnte sogar die feinen Erschütterungen des Spinnennetzes spüren, das eine Spinne zwischen zwei Ästen gespannt hatte. Sie spürte die Erschütterung, als eine Fliege sich verfangen hatte und konnte sogar die Erleichterung der Spinne nachvollziehen, die in ihrem Hinterteil unzählige Eier produziert hatte und sich nun sicher war, dass ihre Nachkommen nicht würden hungern müssen. So nahm Lotta alles wahr, was in und um den Baum herum vor sich ging. Sie war zum Baum geworden und eins mit ihrer Umwelt. Der Frieden, der sie durchströmte, war dicht und stark. Er war vollkommen. Lotta war mittendrin und eins mit ihrer Umgebung. Langsam sah sie und fühlte gleichzeitig, wie die Sonne sich langsam dem Horizont zu bewegte. Sie konnte die Bewegung des Himmelsgestirns fühlen und wusste, in welchem Moment die Sonne den Horizont berührte. Lotta seufzte leise. Die Luft, die sich durch das Gewitter erst abgekühlt und dann durch die Nachmittagssonne wieder stark erwärmt wurde, wurde erneut kühler und frischer. Feuchtigkeit lag in der Luft und die Tieren machten sich langsam fertig für die Nacht. Die Vögel stimmten ihr Abendkonzert an und das Singen der Natur nahm eine andere Tonart an, als ob es von Dur zu Moll übergehen wollte. Die Geschäftigkeit der Tierwelt des Tages kam langsam zur Ruhe, während die leisen Geschöpfe der Nacht langsam erwachten. Lotta staunte und sah zu, wie der Tag sich verabschiedete und die Nacht einzog. Statt sich zu fürchten, atmete sie wie befreit auf, denn die nächtliche Stille tat unendlich gut nach dem Lärm des Tages. Die Düfte veränderten sich, wurden teils intensiver noch als am Tage und taten der Seele wohl. Die samtige Schwärze der Nacht legte sich wie eine Decke sanft auf Felder, Wald und Wiesen. Das Firmament, das mit der Pracht von ungezählten Sternen die Nacht erleuchtete, spendete Trost und Nahrung für Träume und Fantasie. Die Tiere der Nacht kamen und gingen, Lotta konnte sie nicht alle sehen, doch sie fühlte sie genau und wusste, was sie dachten. Alle hatten sie ihren Platz in dieser Welt und wurden geliebt. Lotta fühlte, wie ihr Baum Feuchtigkeit und Nahrung aus der Erde bezog. Sie fühlte die Kraft, die sie durchströmte und die unglaubliche Ruhe in jeder einzelnen Zelle. Sie fühlte, dass ihre menschlichen Zellen sich mit den Zellen des Baumes vereinigt hatten und so wurde ihr menschliches Sein mit dem Baum zusammen genährt und gestärkt. Es war ein unbeschreibliches Gefühl der Kraft, Weisheit und inneren Ruhe. Lotta war rundum wunschlos glücklich und zufrieden. Sie freute sich an ihrem Sein und an ihrer Einheit mit der Natur. Sie atmete die Nachtluft mit allen Gerüchen und ihrer sanften Feuchtigkeit tief ein. Die Zeit stand für Lotta still, sie hätte ewig hier stehen können, denn sie spielte keine Rolle mehr.
Als langsam die Dämmerung anbrach, veränderte sich die Welt um sie herum erneut. Je deutlicher die Kontraste wurden, desto deutlicher wurde Lotta wieder zu Lotta. Als die Sonne hinter den Baumwipfeln des Waldes hochstieg, konnte sie ihren eigenen Körper wieder deutlich fühlen und die Glückseligkeit der Verschmelzung wich dem Bewusstsein der eigenen Individualität. Lotta seufzte wieder, doch jetzt war es ein Ausdruck des Bedauerns. Sie hätte dieses Gefühl des Einsseins mit der Natur gerne noch etwas länger festgehalten, doch es entglitt ihr zusehends, so wie ein Traum, den man nach dem Aufwachen nicht mehr fassen kann. Als die ersten Sonnenstrahlen auf Lotta’s Füße trafen, war sie wieder ganz sie selbst und in ihrem eigenen Körper zu Hause. Den reckte und streckte sie nun ausgiebig und griff nach ihrer Tasche. Bevor sie ging, lehnte sie sich noch einmal mit ihrem ganzen Körper an den Baumstamm und dankte der Weide still für den angenehmen Zufluchtsort, den sie ihr gewährt hatte. Dann drehte sie sich um und ging fröhlich pfeifend nach Hause.
Die Stunden in der Obhut der großen Weide aber behielt sie als Schatz in ihrem Herzen.